Der Garten meiner Omi
Eines Tages stand ich am Zaun von dem Garten, der einmal das Reich meiner Omi war. Nur stand ich nicht innerhalb des Zaunes, sondern außerhalb, und spähte durchs Gestrüpp, das als Sichtschutz genutzt wurde. Ich spähte hindurch, um erkennen zu können, ob vielleicht noch die Himbeersträucher da waren? Und was ist mit den Stachelbeeren? Und weiter hinten, die Obstbäume, geht es ihnen gut?
Den kleinen Kirschbaum sah ich, weiter vorne, wobei er ganz schön gewachsen ist.
Er war noch klein, als wir gegangen sind.
Ich ging damals mit leichtem Herzen, was sollte ich schon auf dem Dorf?
Wir schienen keine andere Wahl zu haben, und ich war bereit,
in die Welt zu ziehen. Ich machte mich auf in die große Stadt,
um Erfahrungen zu sammeln – nicht mehr Beeren im Garten.
Doch wie ging es ihr, meiner Omi?
Das fragte ich mich, als ich so dastand am Zaun.
Ein tiefes Sehnen führte mich dorthin, denn in letzter Zeit trauerte ich um das, was wir verlassen hatten. Ich trauerte – so viele Jahre später. Ich war mit dem Erfahrungen sammeln in der Stadt fertig und wollte wieder Beeren sammeln. Als Kind nahm ich mir oft eine Schüssel und füllte sie mit allem, was der Garten an süßen Früchten hergab. Mir war nicht bewusst, wie glücklich diese Momente waren. Jetzt weiß ich es, und manchmal gehe ich in Gedanken mit diesem Mädchen durch den Garten.
Ich flüstere ihr zu, wie schön und friedlich es ist, was sie da gerade tut, dass sie den Pflanzen danken soll und die Momente mit allen Sinnen genießen: die Sonne schien, es war still, außer den Geräuschen des Windes und der Vögel. Schmetterlinge spielten fangen, die Katzen warteten geduldig auf die nächste Maus, und ein schwarzer Hund machte Siesta. Ein Mädchen ging von Strauch zu Strauch, eine Beere in den Mund, eine in die Schüssel.
Vielleicht stand meine Omi dort irgendwo, ein stilles Lächeln im Gesicht, bevor sie sich um die Hühner kümmerte oder die Kaninchen versorgte. Sie war ein Flüchtling, eine im Krieg Vertriebene, die in dem Dorf in Brandenburg ihren Mann und ihr Zuhause fand. Meinen Opi, der ordentlich um sie warb, lernte sie zu lieben mit den Jahren, denn er war ein Guter. Denn der den sie einst liebte, war im Krieg gefallen. Einen Beruf hatte sie nicht gelernt, und konnte doch soviel. Sie hat eine ganze Familie versorgt, erst ihre, dann die ihres Sohnes. In der DDR gab es ja nicht von allem reichlich, also weder von allem, noch reichlich. Bei uns schon. Wir waren nicht reich (im herkömmlichen Sinne), aber unser Keller war voll.
Ich liebte den leicht modrigen Geruch unseres Kellers. Er war gefüllt mit Bergen von Kartoffeln, Zwiebeln und Äpfeln, Tonkrügen mit sauren Gurken, mit Marmeladengläsern und eingeweckten Erdbeeren (die gab es nur zu besonderen Anlässen), Pfirsichen, Pflaumen, Birnen, Kirschen, Bohnen, Erbsen, Grünkohl, Rhabarber, Kürbiskompott. Die Marmeladen waren meist sehr süß. Denn Zucker gab es im Krieg nicht soviel, aber in der DDR gab es genug Zucker, und so ging meine Omi großzügig damit um. Später durfte sie keinen Zucker mehr essen, denn der war zu hoch bei ihr. Bei ihrer Schwester auch.
Selbst die Bettdecken, unter denen wir lagen, entstanden aus den Federn der Enten, die sie gerupft hat. Während wir zur Schule gingen und unsere Eltern arbeiteten, kümmerte sich meine Omi um Hof und Garten.
Und so fragte ich mich da am Zaun, auf der anderen Seite, wie sehr muss es sie geschmerzt haben, ihren Garten zu verlassen? Wieder alles aufzugeben, wie damals? Doch dieses Mal ging es nicht zu Fuß mit einer großen Familie übers Land, sondern mit einem Umzugswagen in eine kleine Wohnung in einem Mietshaus. Vielleicht war sie froh darum. Bestimmt fielen viele Lasten von ihr ab, und der Garten wurde zu groß für eine Frau, die ihr ganzes Leben geackert hatte.
Ich hatte sie nicht gefragt, wie es ihr dabei ging.
Und ich hatte ihr nicht bewusst dafür gedankt.
Einige Zeit später, nachdem ich da außen am Zaun stand, trafen wir uns, meine Omi und ich. Das taten wir ab und zu, seit sie gegangen war. Wir trafen uns dann auf einer Art Zwischenebene, zu der wir beide Zugang haben. Ich von der einen Seite, sie von der anderen.
Im Traum.
Im Traum ist Raum.
Auf dieser Ebene gibt es noch alles, z.B. auch Gebäude, die physisch nicht mehr existieren. Denn sie sind nicht weg. Die Seele meiner Omi gab sich immer große Mühe so auszusehen, wie ich sie kannte. Das bekam sie gut hin, und doch spürte ich, dass es nicht immer einfach war.
Und so standen wir uns in dem alten Schuppen, der an den Garten angrenzt, gegenüber. Er war etwas dunkel, eben so wie es dort war.
Ich bedankte mich bei ihr.
Ich bedankte mich bei ihr, dass sie uns so toll versorgt hat.
Ich wertschätzte sie.
Wir standen beide unter Tränen da und umarmten uns. Ich konnte sie sogar riechen. Ich bin dankbar für dieses Treffen, da im Schuppen. Für dieses Geschenk.
Und ich danke all Jenen meiner Familie, die vor mir da waren.
Text und Bild Himbeere © Melanie Ackermann
Bild „Königin der Nacht“: Ulrike Barth
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P.S.:
Die „Königin der Nacht“ war die Lieblingspflanze meiner Omi. Ihre Blüten blühen nur einmal im Jahr auf, und das eben nachts. Und so saß meine Omi durchaus mal in der Nacht draußen vor dem kleinen Gewächshaus auf einem Schemel, um bei diesem Ereignis dabei zu sein. Manchmal gesellte sich auch jemand zu ihr und in diesen Stunden gab es sicherlich Interessantes zu erzählen.